Prof. Dr. Wolfgang Graf Vitzthum Sommersemester 1997
Prof. Dr. Ernst-Lüder Solte 24.4.1997
Übung im Öffentlichen Recht für Anfänger
Klausur Nr. 1

Angesichts der zunehmenden Verbreitung verfassungsfeindlicher Sekten und ihrer immer stärker werdenden Einflußnahme auf Wirtschaft und Politik plant die Bundesregierung, einen neuen § 44d in das Abgeordnetengesetz einzufügen, der die Überprüfung von Abgeordneten auf ihre Mitgliedschaft in einer Sekte durch einen eigens für diese Aufgabe zu bildenden Bundestagsausschuß ermöglicht. Aufgrund seiner Ermittlungen soll der Ausschuß abschließend klären, ob ein überprüfter Abgeordneter einer Sekte angehört.

Nachdem Vorwürfe aus dem Ausland laut geworden sind, in Deutschland würden Sektenmitglieder benachteiligt, hält es die Bundesregierung für außenpolitisch klüger, den Gesetzentwurf nicht selbst einzubringen. Sie veranlaßt daher die Mitglieder der Regierungsfraktion, den Entwurf als eigene Vorlage einzubringen.

Da sich für die Gesetzesvorlage eine breite Mehrheit im Bundestag findet, wird das Gesetz schon nach der ersten Lesung gegen die Stimmen der F-Fraktion, die 122 Bundestagsabgeordnete stellt, beschlossen und dem Bundesrat zugeleitet, der keinen Einspruch einlegt und auch sonst nichts beschließt. Einen Monat nach der Zuleitung an den Bundesrat wird das Gesetz vom Bundespräsidenten ausgefertigt und verkündet.

Sogleich nach der Verkündung stößt der neue § 44d AbgG auf Kritik. Der Abgeordnete A sieht sich in seinen Rechten als Abgeordneter verletzt, da die Überprüfung auf eventuelle Sektenzugehörigkeit ihn in der freien Ausübung seines Mandats behindere. Der Bundesrat rügt, daß seine Entscheidung nicht abgewartet worden sei. Die F-Fraktion hält das Gesetz angesichts des Weglassens der zweiten und dritten Lesung für verfassungswidrig; auch sei die Einbringung eines Regierungsentwurfes als Gesetzesvorlage durch die Mitglieder der Regierungsfraktion unzulässig.

Aufgaben:

1. Der Abgeordnete A möchte wegen der behaupteten Behinderung seiner Mandatsausübung das Bundesverfassungsgericht anrufen. Wird er Erfolg haben?

2. Der Bundesrat möchte die Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten verfassungsgerichtlich überprüfen lassen. Wird er Erfolg haben?

3. Die F-Fraktion fragt nach ihren verfassungsgerichtlichen Möglichkeiten, gegen den Bundestag vorzugehen.

Lösungsskizze

1. Frage: Möglichkeiten des Abgeordneten A, gegen die behauptete Behinderung der Ausübung seines Mandats verfassungsgerichtlich vorzugehen

In Betracht kommen ein Organstreit des A als eines Organteils oder eine Verfassungsbeschwerde des A als einer natürlichen Person.

I. Organstreit

A könnte im Organstreitverfahren nach Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63ff. BVerfGG gegen die neue Gesetzesbestimmung vorgehen. Ein Antrag hat Aussicht auf Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist.

1. Zulässigkeit

Ein Antrag des A müßte zulässig sein.

a. Parteifähigkeit des Antragstellers

A müßte als Antragsteller parteifähig sein. A könnte als mit eigenen Rechten ausgestattetes Organteil des Bundestages parteifähig sein. Als Bundestagsabgeordnetem stehen A Rechte aus Art. 38, 46ff. GG, §§ 13ff. GOBT zu. Daher kann ein Abgeordneter Partei eines Organstreitverfahrens sein (vgl. BVerfGE 10, 4 (10f.); 60, 374 (378); Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl., S. 105). A ist also parteifähig i. S. v. § 63 BVerfGG.

b. Parteifähigkeit des Antragsgegeners

Auch der Bundestag als Antragsgegener ist nach § 63 BVerfGG parteifähig.

c. Streitgegenstand

§ 44d AbgG ist als Maßnahme des Bundestages zulässiger Streitgegenstand.

Hinweis: Der Bundespräsident kommt als Antragsgegner nicht in Betracht. Zwar haben Bundestag und Bundespräsident beide bei der Entstehung des Gesetzes mitgewirkt. Entscheidend ist aber, durch wessen Maßnahme A in seinen Rechten verletzt sein könnte. A macht eine Verletzung seiner Rechte durch die vorgesehene Kontrolle geltend. Diese ist der Inhalt des neuen § 44d AbgG. Da der Bundestag nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 II GG) für den Inhalt des Gesetzes verantwortlich ist (vgl. Degenhart, Staatsrecht I, 11. Aufl., RNr. 455), kann nur er Antragsgegner sein.

d. Antragsbefugnis

Da A die Behinderung der Ausübung seines Mandats geltend macht und eine solche Verletzung angesichts der Überprüfung der Abgeordneten auf eine Sektenzugehörigkeit jedenfalls möglich erscheint, ist die Antragsbefugnis i. S. v. § 64 I BVerfGG gegeben (als aktuellen Fall vgl. die Überprüfung von Bundestagsabgeordneten auf fühere Stasi-Tätigkeit: BVerfGE 94, 351 (363f.) = NJW 1996, S. 2720).

e. Form, Frist

Bei Antragstellung sind die Vorschriften des § 64 II, III BVerfGG einzuhalten.

f. Zwischenergebnis

Ein Antrag des A ist zulässig.

2. Begründetheit

Der Antrag des A ist begründet, wenn § 44d AbgG die Mandatsausübung des A tatsächlich behindert. Da § 44d AbgG an die festgestellte Sektenzugehörigkeit eines Abgeordneten keine Rechtsfolgen knüpft, kommen als verletzende Maßnahmen nur die Kontrolle selbst und die mögliche Feststellung der Sektenzugehörigkeit in Betracht.

a. Materielle Aspekte der Überprüfung der Abgeordneten

Da ein Abgeordneter nach Art. 38 I 2 GG hinsichtlich politischer Entscheidungen nur seinem Gewissen unterworfen ist, ist zweifelhaft, ob dieses zugleich Gegenstand einer Überprüfung durch den Bundestag sein darf. Eine Ausübung der Rechte aus Art. 38 I 2 GG setzt einen gewissen persönlichen Freiraum voraus, den Art. 38 I 2 GG mit der Formulierung "nur ihrem Gewissen unterworfen" umschreibt. Zwar deckt sich der Begriff des Gewissens in Art. 38 I 2 GG mit dem in Art. 4 I GG (vgl. v. Münch, GGK, 3. Aufl., RNr. 76 zu Art. 38 GG). Art. 38 I 2 GG verfolgt jedoch ein anderes Schutzziel als das Individualgrundrecht des Art. 4 GG: Er sichert die politische Handlungsfreiheit des Abgeordneten im Parlament, ist also Ausprägung des Demokratieprinzips (vgl. Badura, Bonner Kommentar zum GG, RNr. 50 zu Art. 38 GG), nicht eines Freiheitsgrundrechts. Daher sind staatliche Maßnahmen, die den Abgeordneten in Gewissensfragen tangieren, unzulässig, wenn sie - auch nur faktisch - die Entscheidungsfreiheit (freies Mandat) des Abgeordneten zu beschränken geeignet und nicht im Einzelfall durch höherrangige Verfassungswerte gerechtfertigt sind. Die Kontrolle auf eine eventuelle Sektenzugehörigkeit führt zu einer Behinderung der Mandatsausübung, da nicht auszuschließen ist, daß der Abgeordnete sich bei seinen Entscheidungen durch die Aussicht auf eine Kontrolle und deren möglicherweise nachteilige Folgen beeinflussen läßt.

Den Rechten der Abgeordneten aus Art. 38 I 2 GG könnten jedoch andere Interessen von Verfassungsrang entgegenstehen, die im Wege praktischer Konkordanz gegen diese abzuwägen sind und im Ergebnis möglicherweise Vorrang beanspruchen. Verfassungsfeindliche Sekten sind nach Art. 9 II GG verboten. Insoweit hat der Schutz durch die Religionsfreiheit zurückzutreten. Fraglich ist aber, ob im staatsorganisatorischen Bereich eine solche Konsequenz denkbar ist, also ob dadurch auch eine Überprüfung der Abgeordneten gerechtfertigt werden kann. Da verfassungsfeindliche Sekten die freiheitliche demokratische Grundordnung gefährden können, kann die Sicherheit des Staates zwar grundsätzlich Vorrang vor Rechten der Abgeordneten haben. Diese Wertung ergibt sich auch aus Art. 46 III GG, der eine Aberkennung von Grundrechten bei Abgeordneten zuläßt. Wegen der großen Bedeutung des Abgeordnetenstatus müssen Einschränkungen allerdings verhältnismäßig sein, insbesondere auf das erforderliche Mindestmaß begrenzt werden. Daraus ergibt sich zwar, daß eine Überprüfung auf die Zugehörigkeit zu verfassungsfeindlichen Sekten nicht ausgeschlossen sein darf. § 44d AbgG ermöglicht jedoch eine generelle Überprüfung der Abgeordneten, also auch auf ihre Zugehörigkeit zu nicht verfassungsfeindlichen Sekten. Dies geht über das zum Staats- und Verfassungsschutz erforderliche Maß hinaus. Daher stellt die in § 44d AbgG vorgesehene Überprüfung der Abgeordneten eine unzulässige Beeinträchtigung des Abgeordnetenstatus dar.

b. Formelle Aspekte der Überprüfung der Abgeordneten

Des weiteren könnte auch die Art der Beschlußfassung Rechte der Abgeordneten verletzen. Nach § 44d AbgG soll die Überprüfung durch einen Bundestagsausschuß erfolgen. Fraglich ist, ob die Feststellung der Sektenzugehörigkeit durch den Ausschuß ausreicht oder ein Plenarbeschluß erforderlich wäre. Für die in Art. 46 II-IV GG aufgezählten besonders einschneidenden Maßnahmen ist nach Art. 46 GG ein Plenarbeschluß vorgesehen. Daraus kann aber nicht im Gegenschluß abgeleitet werden, daß in anderen Fällen der Beschluß durch einen Bundestagsausschuß ausreicht: Art. 46 GG bezweckt zunächst den Schutz des Abgeordneten vor Maßnahmen der dritten Gewalt (vgl. Schmidt- Bleibtreu/Klein, GG, 8. Aufl., RNr. 1 zu Art. 46 GG). Doch läßt sich Art. 46 GG ein Rechtsgedanke entnehmen, wonach einschneidende Maßnahmen eines Plenarbeschlusses bedürfen. Diese Wertung ergibt sich auch aus der zentralen Bedeutung der Abgeordnetenstellung für die parlamentarische Demokratie. Sie wird im Parlamentsrecht durchgehend beachtet; so bereitet selbst der in Art. 45c GG verfassungskräftig vorgeschriebene Petitions- ausschuß die Entscheidungen des Plenums nur vor (vgl. §§ 108ff. GOBT). Für die Bestimmung des beschlußfassenden Gremiums kommt es daher auf die möglichen Auswirkungen eines Beschlusses auf die Rechtsstellung der Abgeordneten an.

Für eine Zulässigkeit des Beschlusses durch einen Ausschuß könnte zwar sprechen, daß § 44d AbgG an die Feststellung der Sektenzugehörigkeit keine weiteren Rechtsfolgen knüpft. Jedoch beeinträchtigt schon, wie oben (unter a) gezeigt, die bloße Kontrolle der Abgeordneten die Mandatsausübung. Außerdem entscheidet der Beschluß des Ausschusses die Frage der Sektenzugehörigkeit abschließend. Daraus könnten sich weitere nachteilige Konsequenzen für den Abgeordneten ergeben, gegen die er dann nicht mehr mit der Behauptung vorgehen könnte, keiner verfassungsfeindlichen Sekte anzugehören. Daher müßte dem Abgeordneten zumindest die Möglichkeit gegeben werden, durch Widerspruch gegen die Entscheidung des Ausschusses einen Plenarbeschluß herbeizuführen (vgl. v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl., RNr. 46 zu Art. 46 GG; zur Beteiligung des Abgeordneten an parlamentarischen Untersuchungsverfahren vgl. auch BVerfGE 94, 351 (367) = NJW 1996, S. 2721). Die endgültige Entscheidung des Ausschusses (statt des Plenums) über die Sektenzugehörigkeit verletzt daher die Rechte der betroffenen Abgeordneten.

c. Zwischenergebnis

§ 44d AbgG verletzt den Abgeordnetenstatus des A. Der Organstreit ist daher begründet

3. Zwischenergebnis

Ein Organstreit des A ist zulässig und begründet.

II. Verfassungsbeschwerde

A könnte im Wege einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90ff. BVerfGG gegen den neuen § 44d AbgG vorgehen. Grundsätzlich ist eine Verfassungsbeschwerde neben dem Organstreit möglich, da der Organstreit kein spezielleres Verfahren ist. Ein Antrag hätte Aussicht auf Erfolg, wenn er zulässig und begründet wäre. Zunächst müßte eine Verfassungsbeschwerde des A zulässig sein.

1. Beschwerdefähigkeit

A ist als natürliche Person grundrechtsberechtigt und damit beschwerdefähig.

2. Beschwerdegegenstand

§ 44d AbgG ist als Maßnahme des Bundestages Akt der öffentlichen Gewalt und damit zulässiger Beschwerdegegenstand.

3. Beschwerdebefugnis

A müßte die Verletzung eigener Grundrechte oder grundrechtsgleicher Rechte behaupten. In Betracht kommen Rechte aus Art. 4 I, II; 140 GG i. V. m. Art. 136 I - III WRV; Art. 2 I i. V. m. 1 I GG (Recht auf informationelle Selbstbestimmung), 3 I, III GG. A rügt jedoch nur die Verletzung seines Abgeordnetenstatus (zur Abgrenzung der Rechtsstellung als Abgeordneter und als natürliche Person vgl. Umbach/Clemens, BVerfGG, RNr. 25 zu §§ 63, 64 BVerfGG). Zwar kann eine Verfassungsbeschwerde auch auf eine Verletzung von Art. 38 GG gestützt werden. Art. 93 I Nr. 4a GG meint jedoch nur die in Art. 38 enthaltenen grundrechtsgleichen politischen Rechte wie etwa das Wahlrecht. Der Abgeordnetenstatus wird dagegen nicht erfaßt (vgl. Stern, Bonner Kommentar zum GG, RNr. 668 zu Art. 93 GG). Hierfür spricht auch, daß der Abgeordnete als Verfassungsorgan gleiche Rechtsschutzmöglichkeiten haben soll wie andere Verfassungsorgane: Diesen steht mit dem Organstreit nur die Möglichkeit zur Verfügung, die Verfassungswidrigkeit von Maßnahmen anderer Organe nach § 67 S. 1 BVerfGG feststellen zu lassen, während die Verfassungsbeschwerde die Möglichkeit zur Nichtigerklärung nach § 95 III 1 BVerfGG eröffnet. Daher kann A nicht Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung, in seinem Abgeordnetenstatus verletzt zu sein, erheben. Die Beschwerdebefugnis ist zu verneinen.

4 . Zwischenergebnis

Eine Verfassungsbeschwerde des A ist unzulässig.

III. Ergebnis

A kann gegen § 44d AbgG im Wege des Organstreites vorgehen. Dieser ist zulässig und begründet.

2. Frage: Möglichkeiten des Bundesrates, die Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten verfassungsgerichtlich überprüfen zu lassen

Der Bundesrat könnte das Vorgehen des Bundespräsidenten im Wege eines Organstreitverfahrens nach Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63ff. BVerfGG überprüfen lassen. Ein Antrag hat Aussicht auf Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist. Ein Antrag des Bundesrates müßte zunächst zulässig sein.

I. Parteifähigkeit des Antragstellers

Der Bundesrat als Antragsteller ist nach § 63 BVerfGG parteifähig.

II. Parteifähigkeit des Antragsgegeners

Der Bundespräsident als Antragsgegner ist nach § 63 BVerfGG parteifähig.

III. Streitgegenstand

Der Bundesrat wendet sich gegen die Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes als Maßnahme des Bundespräsidenten. Damit liegt ein Streitgegenstand i. S. v. § 64 I BVerfGG vor.

Hinweis: Der Bundestag kommt als Antragsgegner nicht in Betracht. Da der Bundesrat keinen Einspruch eingelegt hat, konnte der Bundestag auch nicht reagieren. Es fehlt an einem verfassungsgerichtlich überprüfbaren Handeln oder Unterlassen des Bundestages, das Streitgegenstand sein könnte.

IV. Antragsbefugnis

Der Bundesrat muß geltend machen, daß er in seinen Rechten aus Art. 77, 78 GG verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Hierfür reicht aus, daß eine solche Verletzung möglich erscheint.

1. Eine Verletzung der Rechte des Bundesrates könnte zweifelhaft sein, wenn der Bundespräsident keine Befugnis hatte, das ordnungsgemäße Zustandekommen des § 44d AbgG zu prüfen. Die ganz h. M. billigt dem Bundespräsidenten insbesondere auf der Grundlage des Art. 82 I 1 GG ("nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze") ein formelles Prüfungsrecht zu. Der Präsident war daher befugt, das Gesetz auf die Verfassungsmäßigkeit seines Zustandekommens zu überprüfen und im Falle der Erkenntnis der Verfassungswidrigkeit die Ausfertigung und Verkündung zu unterlassen. Allerdings hat der Bundespräsident nach h. M. keine Prüfungspflicht.

2. Der Bundespräsident hat bei der Ausfertigung und Verkündung möglicherweise die Mitwirkungsrechte des Bundesrates übergangen. Ein vom Bundestages beschlossenes Gesetz kommt unter den Voraussetzungen des Art. 78 GG zustande. Der Bundesrat hat dem Gesetz zu § 44d AbgG nicht zugestimmt. Das Gesetz wäre formell verfassungswidrig, wenn die Zustimmung des Bundesrates erforderlich gewesen wäre. Dem Gesetz ist aber kein Anhaltspunkt für die Zustimmungsbedürftigkeit zu entnehmen (etwa aus Art. 84 I GG als häufigstem Fall der Anordnung der Zustimmungsbedürftigkeit). Es handelt sich also um ein Einspruchsgesetz.

Gemäß Art. 77 III GG hat der Bundesrat nur ein Recht zum Einspruch, wenn vorher der Vermittlungsausschuß angerufen wurde. Der Bundesrat hat aber keinen Antrag auf Einberufung des Vermittlungsausschusses gestellt (Art. 77 II GG). Damit ist das Zustandekommen des Gesetzes gewährleistet: Art. 78 GG sieht es vor, wenn (a) nicht innerhalb von drei Wochen nach Eingang des Gesetzesbeschlusses die Einberufung des Vermittlungsausschusses verlangt (Art. 77 II 1 GG) und (b) nach Beendingung des Vermittlungsverfahrens nicht innerhalb von zwei Wochen Einspruch eingelegt wird (Art. 77 III GG). Der Bundesrat hat bereits die erste Frist verstreichen lassen. Damit ist das Gesetz zustande gekommen, auch ohne daß der Bundesrat irgend einen Beschluß getroffen hat. Es handelt sich hierbei nicht um eine Ausnahmebestimmung, sondern um den gesetzgeberischen Normalfall. Da die Verletzung der Rechte des Bundesrates offensichtlich ausgeschlossen ist, ist sein Antrag unzulässig.

Hinweis: Als a. A. ist bei entsprechender Begründung auch vertretbar, daß der Antrag zulässig, aber (aus den gleichen Gründen) unbegründet ist.

III. Ergebnis

Ein Organstreit des Bundesrates ist unzulässig.

3. Frage: Möglichkeiten der Fraktion F, gegen das Vorgehen des Bundestages das Bundes- verfassungsgericht anzurufen

In Betracht kommen ein Organstreit oder eine abstrakte Normenkontrolle.

I. Organstreit gegen das Vorgehen des Bundestages

F könnte im Organstreitverfahren nach Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63ff. BVerfGG gegen das Vorgehen des Bundestages das Bundesverfassungsgericht anrufen. Ein Antrag hat Aussicht auf Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist. Ein Antrag der F müßte zunächst zulässig sein.

1. Parteifähigkeit der Antragstellerin

F müßte als Antragstellerin parteifähig sein. F könnte als mit eigenen Rechten ausgestattetes Organteil des Bundestages i. S. v. § 63 BVerfGG parteifähig sein. Hierzu müßte eine Fraktion mit eigenen Rechten ausgestattet sein. Eine Erwähnung der Fraktionen im GG findet sich nur beiläufig in Art. 53a I 2 (Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, RNr. 929). Ausführliche Regelungen, die die Fraktionen als mit eigenen Rechten ausgestattete Organteile des Bundestages ausweisen, enthält dagegen die GOBT in §§ 10ff., 76 I. Daher kann eine Fraktion Partei eines Organstreitverfahrens sein (BVerfGE 2, 143 (160); 20, 56 (104); vgl. auch Umbach/Clemens, BVerfGG, RNr. 74 zu §§ 63, 64 BVerfGG; Pestalozza, Verfassungs- prozeßrecht, 3. Aufl., S. 106). F ist damit parteifähig.

2. Parteifähigkeit des Antragsgegeners

Auch der Bundestag als Antragsgegner ist nach § 63 BVerfGG parteifähig.

3. Streitgegenstand

Der neue § 44d AbgG ist als Maßnahme des Bundestages zulässiger Streitgegenstand.

4. Antragsbefugnis

F müßte antragsbefugt i. S. v. § 64 I BVerfGG sein. Fraglich ist zunächst, ob F als Teil des Bundestages überhaupt einen Organstreit gegen diesen führen kann. Dagegen könnte zwar sprechen, daß F selbst Teil des Bundestages ist, so daß es sich um einen Streit innerhalb eines Organs handeln würde. Eine eigene Antragsbefugnis von Organteilen im Organstreit gegen das Organ, dem sie angehören, wird aber bejaht, soweit sie verfassungsrechtlich gesicherte (vgl. BVerfGE 27, 44 (51); Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl., S. 114) eigene (vgl. BVerfGE 67, 100 (126); Stern, Bonner Kommentar zum GG, RNr. 152 zu Art. 93 GG) Rechte, die ihnen gegenüber dem Organ zustehen, geltend machen.

F stützt ihren Antrag erstens auf das Weglassen der zweiten und dritten Lesung und zweitens auf das Einbringen des Regierungsentwurfes als Gesetzesvorlage durch die Mitglieder einer Fraktion. Fraglich ist, ob die Möglichkeit besteht, daß F dadurch in eigenen - und zudem durch die Verfassung gesicherten - Rechten verletzt sein kann.

Zwar könnten F durch das Weglassen der Lesungen Möglichkeiten zur Ausübung von Beteiligungsrechten bei diesen Lesungen verlorengegangen sein. Diese Rechte ergeben sich allerdings, wie die Anordnung der Lesungen selbst, nur aus §§ 78 I 1, 79ff. GOBT . Nach Art. 93 I Nr. 1 GG, § 64 I BVerfGG ist jedoch die Verletzung eines durch das Grundgesetz eingeräumten Rechtes erforderlich, was schon aus dem Wortlaut des Art. 93 I Nr. 1 GG ("... über die Auslegung dieses Grundgesetzes...") folgt (vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, RNr. 941). Das Weglassen der zwei zusätzlichen Lesungen kann daher nicht im Wege des Organstreites gerügt werden.

Die Einbringung des Regierungsentwurfes als Gesetzesvorlage durch die Mitglieder einer Fraktion als zweiter möglicher Antragsgegenstand eines Organstreitverfahrens wirft zwar Fragen des Gesetzgebungs- verfahrens auf, da eine Umgehung von Art. 76 II GG denkbar wäre (zu diesem Problem vgl. Bleckmann, Staatsrecht I, S. 745), und sie betrifft damit Regelungen des GG. Es sind jedoch keine eigenen Rechte der F ersichtlich, die dadurch verletzt sein könnten.

Schließlich könnte F versuchen, in Prozeßstandschaft Rechte geltend zu machen: Eine Geltendmachung der Verletzung von Rechten des Bundestages durch F als dessen Organteil, die nach § 64 I BVerfGG grundsätzlich zulässig ist (vgl. BVerfGE 98, 39 (42); Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl., S. 114), kommt nicht in Betracht, da sich der Antrag der F gegen den Bundestag richtet. F kann auch nicht die Verletzung von Rechten der in ihr zusammengeschlossenen Abgeordneten rügen, da § 64 I BVerfGG eine Prozeßstandschaft nur zuläßt, soweit ein Organteil Rechte des Organs geltend macht, dessen Teil es ist (vgl. Lechner/Zuck, BVerfGG, 4. Aufl., RNr. 6 zu § 64 BVerfGG).

Es fehlt also an einer Antragsbefugnis der F.

5. Zwischenergebnis

Ein Antrag der F im Organstreitverfahren ist unzulässig.

II. Überprüfung des Gesetzes im Wege der abstrakten Normenkontrolle

F könnte im Wege der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 I Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76ff. BVerfGG gegen das Gesetz vorgehen. Ein Antrag hat Aussicht auf Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist. Im Rahmen der Zulässigkeit ist zunächst die Antragstellerfähigkeit zu prüfen. Diese ist zu verneinen: Art. 93 I Nr. 2 GG sieht als Antragsteller ein Kollektiv von Bundestagsabgeordneten vor, das mindestens ein Drittel der Mitglieder des Bundestages erfassen muß. Eine Fraktion kann deren Antragsbefugnis nicht ausüben. Selbst wenn man anders entscheiden wollte, wäre hier jedenfalls die nach Art. 93 I Nr. 2 GG erforderliche Zahl der Abgeordneten nicht erreicht: Mit 122 Abgeordneten liegt F weit unter einem Drittel der 656 regulären Abgeordneten nach § 1 I 1 BWG (außerdem derzeit 16 Überhangmandate). Eine abstrakte Normenkontrolle ist daher unzulässig.

Hinweis: Andere Möglichkeiten einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung sind nicht ersichtlich. Da der Fraktion der Zugang zum Bundesverfassungsgericht nicht eröffnet ist, ist die Begründetheit nicht zu prüfen (sie wäre im Übrigen zu verneinen).

III. Ergebnis

F kann nicht gegen das Vorgehen des Bundestages das Bundesverfassungsgericht anrufen.

Hinweise:

Korrekturbeschwerden sind nur bis zum 6. 6. 97 möglich ( Ausschlußfrist

Es fehlen immer noch die AG-Scheine einiger Teilnehmer. Bitte reichen Sie diese umgehend

nach. Ohne Nachweis der Teilnahme an einer Fallbesprechung kann der Übungs-Schein nicht erteilt werden.